Ich KANN…
Und WERDE!
„Protest gegen Paschinjans Paradigmenwechsel
Doch 2020 hatte sich das Blatt gewendet: Auch die vereinten Armenier waren den mit Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft hochgerüsteten Truppen Aserbaidschans, das mehr als zehn Millionen Einwohner hat, mit ihren türkischen und israelischen Drohnen unterlegen. Seither hat sich die Lage für die Armenier nicht verbessert. Auf Nachfrage sehen Baghdasarjan und ihre Mitstreiter eine Beistandspflicht wie 2020. Es klingt aber eher trotzig und verzweifelt als hoffnungsfroh.
Mittlerweile hat Paschinjan Nagornyj Karabach ausdrücklich als Teil Aserbaidschans anerkannt. Für Armenien war das ein Paradigmenwechsel. Arewik Aschcharojan, die in Eriwan eine Literaturagentur betreibt, sagt, früher sei in Armenien über „Arzach“ in geschichtlichen Begriffen diskutiert worden, als einer historischen Heimstätte von Armeniern, jedoch ohne die völkerrechtliche Zugehörigkeit zu bedenken. Seit 2020 werde in rechtlichen Kategorien gesprochen. Betont werde auch das Recht, das die Karabach-Armenier haben sollten, in ihrer Heimat zu leben. Doch hätten internationale Organisationen und andere Regierungen nicht sehen wollen, was in der Region vorgehe, sagt Aschcharojan. „Wir hofften immer noch, dass jemand die Gewalt stoppt“, dass die Rechte der Karabach-Armenier gewahrt würden. „Aber als das nicht geschah, war das keine Überraschung.“
Aschcharojan sieht in ihrem Umfeld viel Frustration über Russland als traditionellen Verbündeten, aber auch über den Westen – und die starke Überzeugung, dass es jetzt darum gehe, Armenien als demokratischen Staat „zu helfen, zu retten“. Paschinjan äußert sich ebenso. „Armenien muss ein friedlicher, entwickelter, glücklicher, freier und demokratischer Staat sein“, sagte er in seiner jüngsten Ansprache an die Nation.
Gegen Abend strömen zwar Tausende auf den Platz der Republik. „SOS Arzach“ steht auf manchem T-Shirt, Fahnen werden geschwenkt, und immer wieder erklingt der Ruf nach der dem Untergang geweihten „Republik“, auch bei einem Marsch durch die Straßen der Hauptstadt, mit Stationen vor den Sitzen von Geheimdienst und Polizei. Doch nach armenischen Maßstäben ist der Protest noch kein Massenphänomen. Die Wut wirkt hilflos. Türken hätten Paschinjan eingesetzt, ist der Tenor einer Gruppe von Leuten, die angeben, aus Martakert zu stammen, einer von Aserbaidschan Agdere genannten Stadt in Karabach. Erst müsse man Paschinjan, „dieses Vieh“, absetzen, dann „Arzach befreien“. Auf die Frage, wie das gehen soll, schwärmt ein Mittsechziger, der später am Abend unermüdlich „Arzachs“ Fahne vor Kameras schwenken wird, von der „Stärke“ der Region, die im Zweiten Weltkrieg „fünf Marschälle der Sowjetunion“ hervorgebracht habe.
Opposition fordert engere Anlehnung an Russland
Dass die Gegenwart trüber aussieht, dürfte auch vielen hier klar sein. Paschinjans politische Gegner versuchen dennoch, aus der Situation politischen Gewinn zu schlagen. Ihr „Nationales Komitee“ genannter Koordinationsrat, der jetzt Armenien mit Protestaktionen und Blockaden lahmlegen will, vereint Nationalisten und Kräfte aus dem 2018 in der „samtenen Revolution“ gestürzten, alten Machtkartell. Einer von ihnen, der Oppositionsabgeordnete Andranik Tewanjan, fordert auf dem Protest am Abend, die Beziehungen zu „unseren Verbündeten“ Russland und Iran zu verbessern und Armeniens Armee wiederherzustellen.
Tewanjan wirft Paschinjan vor, Armenien zum Schauplatz der Konfrontation Russlands mit dem Westen gemacht zu haben. Dagegen wirft der Ministerpräsident den seit dem Waffenstillstand von 2020 in Karabach stationierten russischen Friedenstruppen Untätigkeit vor und bezeichnet Armeniens Fokus auf Russland als alleinigen Sicherheitspartner als „strategischen Fehler“. Das ist ein Gefühl, das viele Armenier teilen. Auch vor Russlands Botschaft in Eriwan ist demonstriert worden. Selbst auf dem Protest von Paschinjans Gegnern fehlen Russland-Fahnen oder entsprechende Parolen. Es herrscht das Gefühl vor, „von allen verraten“ worden zu sein, wie in der Gruppe aus Martakert. Sie sprechen davon, dass Armenien Teil eines „türkischen Imperiums“ werden solle, unken dass Paschinjan jetzt auch das südostarmenische Gebiet Sjunik preisgeben werde.
Die Waffenstillstandsvereinbarung von 2020 sieht unter anderem einen neuen Transportweg von Aserbaidschan in die Exklave Nachitschewan vor, der „im Einvernehmen“ zu errichten ist. Bisher sind die Details des sogenannten Sangesur-Korridors durch das armenische Sjunik-Gebiet umstritten. Doch eine entsprechende Straßen- und Bahnverbindung könnte weit über die Region hinaus von Bedeutung sein. Er könnte Warenströme von China über Zentralasien, das Kaspische Meer, Aserbaidschan und die Türkei nach Europa in die Region lenken.
Alijews Allianz mit Erdoğan
Dieser sogenannte Mittlere Korridor hat durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine an Attraktivität gewonnen, als Alternative zum sogenannten Nördlichen Korridor, dem Bahntransport durch Russland. Sangesur- und Mittlerer Korridor passen so bestens zu den Plänen des türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan, sein Land als Brücke zwischen Ost und West zu positionieren – und in Armenien wachsen angesichts der Bereitschaft Alijews, Krieg als Mittel für seine Politik einzusetzen, Sorgen um den Südosten des Landes. So registriert man genau, dass Erdoğan ausgerechnet jetzt Alijew besucht, und zwar just in Nachitschewan, dessen Garantiemacht die Türkei 1921 mit dem Vertrag von Moskau wurde. Von „großen ungenutzten Potentialen“ der Region, schwärmte Erdoğan am Montag.
Gemeinsam nahmen die beiden Staatschefs an einer Zeremonie zum Baubeginn einer neuen Pipeline teil, mit der aserbaidschanisches Erdgas über die Türkei nach Nachitschewan transportiert werden soll. Bisher wird die Exklave aus Iran versorgt, dessen Einfluss Ankara zurückdrängen will. Erdoğan und Alijew eröffneten außerdem nach Ankaras Angaben einen „modernisierten aserbaidschanischen Militärkomplex” und zeigten damit die enge militärische Zusammenarbeit ihrer Länder. Die Türkei bildet aserbaidschanische Soldaten aus, beliefert Baku mit Waffen und liebäugelt mit einer eigenen Militärbasis im Nachbarland. Erdoğan gratulierte den aserbaidschanischen Streitkräften zu ihrem „historischen Triumph“ und behauptete, sie hätten „größtmögliche Rücksicht auf Zivilisten“ genommen.
Mit seiner diplomatischen Rückendeckung für Alijews neue Militäroffensive in Nagornyj Karabach hatte Erdoğan schon vergangene Woche signalisiert, dass die Türkei als Regionalmacht bei künftigen Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan mit am Tisch sitzen will. Alijew bekundete an der Seite seines türkischen Gasts „Stolz“ auf die „Antiterroroperation“, wie Baku die jüngsten Angriffe auf Karabach nennt. Mit Russland teilt er die Auffassung, dass westliche Länder dabei möglichst keine Rolle spielen sollen. Besonders den USA und Frankreich wird unterstellt, wegen der armenischen Diaspora in ihren Ländern parteiisch zu sein.“