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„Währungskrise in der Türkei: Erdoğans gefährliche Zinstheorie
Jurik Caspar Iser – ZEIT ONLINE – Sonntag, 9. Januar 2022

Die Inflation in der Türkei gerät außer Kontrolle. Welche Folgen die Geldentwertung für die Menschen im Land hat – und warum das nicht nur ein türkisches Problem ist.

Das Leben in der Türkei wird immer teurer: Die Verbraucherpreise waren im Dezember um 36 Prozent höher als vor einem Jahr. Die Inflationsrate stieg auf den höchsten Stand seit fast zwei Jahrzehnten. Mit der Inflation geht ein rasanter Währungsverfall der türkischen Lira einher. Wie die Politik des türkischen Präsidenten die Geldentwertung weiter antreibt und warum die Krise auch an den internationalen Finanzmärkten Sorgen bereitet.
Welchen Kurs verfolgt Erdoğan?
Recep Tayyip Erdoğan ist Anhänger einer merkwürdigen Theorie: Trotz der enormen Preissteigerungen hält der türkische Präsident an seiner Politik der niedrigen Zinsen fest und geht davon aus, dass Zinserhöhungen die Inflation anheizen. Die meisten Ökonomen sind umgekehrter Meinung. Tatsächlich sind die Leitzinsen ein wichtiges Instrument im Kampf gegen die Inflation. In der Regel erhöhen Zentralbanken allerdings bei starker Teuerung den Leitzins, um die Geldmenge im Umlauf zu senken und die Währung zu stärken.
Erdoğan sieht in der gängigen ökonomischen Lehre eine „kapitalistische Logik des Westens“. Er befürchtet, dass hohe Zinsen das Wirtschaftswachstum bremsen und hofft, über niedrige Zinsen die Kreditvergabe zu steigern und Investitionen in die türkische Wirtschaft fördern zu können. Die Schwäche der türkischen Lira soll Exporte ins Ausland begünstigen, die billiger werden. Um seine Niedrigzinspolitik zu verteidigen, verweist Erdoğan unter anderem auf den Koran. Der Islam verbietet Zinssätze oder Wucher.
Zugleich versucht der Präsident mit anderen Mitteln gegenzusteuern: Mitte Dezember hatte Erdoğan den Schutz von Ersparnissen vor Wechselkursschwankungen verkündet sowie den Verkauf von Dollarreserven angeordnet. Der Kurs der Lira sank daraufhin leicht. Zum 1. Januar stieg zudem der Mindestlohn um 50 Prozent auf umgerechnet rund 270 Euro im Monat, um die Kaufkraft der Bevölkerung zu stärken. Dauern die rasanten Preissteigerungen an, könnte der Effekt jedoch verpuffen. Ökonomen befürchten, dass die Maßnahme die Inflation zusätzlich antreibt. „Die Mindestlohnerhöhung könnte die Lohn-Preis-Spirale anfachen und der Inflationsbewegung noch mehr Dynamik verleihen“, sagt der Commerzbank-Analyst Ulrich Leuchtmann.
Und die türkische Zentralbank?
Die türkische Zentralbank gibt dem Druck des Präsidenten nach und hat den Leitzins zuletzt immer weiter gesenkt. Derzeit beträgt der Satz 14 Prozent. Notenbanker, die sich seinem Kurs widersetzten, entließ Erdoğan in der Vergangenheit mehrfach. Ökonomen wie Ulrich Leuchtmann zweifeln an der Unabhängigkeit der Zentralbank. „Eine stabilitätsorientierte Geldpolitik ist unter diesen Bedingungen nicht möglich“, sagt er.
Was bedeutet die hohe Inflation für den Alltag der Menschen im Land?
Der mit der Inflation einhergehende rasante Kursverfall der türkischen Lira verteuert die Einfuhren von Gütern in das Land. Hinzu kommen vergleichsweise hohe Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt. Das Land steckt auch deshalb in einer wirtschaftlich schwierigen Lage, die sich in hoher Arbeitslosigkeit niederschlägt.
Die Preise für viele Lebensmittel sind stark gestiegen. Laut den Zahlen des Statistikamtes wurden Nahrungsmittel im Dezember um knapp 44 Prozent teurer. Mehl und Hühnerfleisch wurden binnen eines Jahres um 86 Prozent teurer, Sonnenblumenöl, Milch und Joghurt um rund 75 Prozent und Brot um 54 Prozent, wie das Statistikamt auflistete. Auch die Gas- und Strompreise wurden angehoben.
Warum sorgt man sich an den internationalen Finanzmärkten um die Türkei?
Viele türkische Unternehmen und der türkische Staat haben Kredite in Euro oder Dollar aufgenommen. „Die Türkei ist ein Land, das sich in zunehmendem Maße im Ausland verschuldet“, sagt Leuchtmann. Das Problem: Je weniger die Lira im Vergleich zu den ausländischen Währungen wert ist, desto größer werden die Schulden, die türkische Firmen abbezahlen müssen. Die Gefahr ist, dass die Unternehmen ihren Verbindlichkeiten nicht mehr nachkommen können, Kreditausfälle drohen. Das würde wiederum die Banken treffen, womöglich auch europäische Geldinstitute.
Der Wirtschaftswissenschaftler Christian Kreiß hält eine Bankenkrise nicht für ausgeschlossen. Der Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre schätzt die Fremdwährungsschulden der Türkei auf 576 Milliarden Dollar, rund 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes. „Wenn Kredite ausfallen, bekommen die Banken Rentabilitätsprobleme, machen Verluste und irgendwann ist das Eigenkapital weg“, erklärt Kreiß und verweist auf die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers im Jahr 2008, die zur weltweiten Finanzkrise führte. „Beim Zusammenbruch von Lehman Brothers haben Schulden von 613 Milliarden ausgereicht, um eine Weltfinanzkrise auszulösen“, erinnert er.
Was bedeutet die Krise für den Handel mit Deutschland?
Der Absturz der türkischen Währung trifft auch die exportorientierte deutsche Wirtschaft. Wenn Waren aus dem Ausland teurer werden, verringert sich die Nachfrage in der Türkei, worunter deutsche Exportunternehmen leiden. Dem Außenhandelsverband zufolge waren zuletzt Maschinen, Autos und Autoteile sowie chemische Produkte betroffen. Die Handelsströme von der Türkei nach Deutschland könnten dagegen zunehmen. Deutschland ist wichtigster Handelspartner und einer der größten ausländischen Investoren im Land: 2020 betrug das bilaterale Handelsvolumen laut Auswärtigem Amt 36,6 Milliarden Euro.

Mit Material von AFP und dpa“