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Türkei wird zum Totengräber der NATO
24.07.2020 • 06:45 Uhr

Quelle: AFP © FETHI BELAID / AFP

Wenn zwei Länder, die eigentlich militärische Verbündete sein sollten, ausfallend werden und sich beinahe ein Seegefecht liefern, weiß man: Es wird Ärger geben. Das Problem für die NATO besteht darin, dass sich der Ärger dieses Mal als tödlich erweisen könnte.
von Scott Ritter
Als eine Geschichte um das gegenseitige Schädeleinschlagen auf hoher See, heimlichen Waffenschmuggel, einen Schlagabtausch zwischen angeblich befreundeten Staaten und somit als ein Vorfall, der für das derzeit größte Militärbündnis der Welt tödlich enden könnte, begann das Ganze eigentlich noch sehr langweilig: Am 7. Juni 2020 verließ ein unter tansanischer Flagge fahrender Frachter, die „Çirkin“, in aller Stille einen türkischen Hafen und nahm Kurs auf den libyschen Hafen Misrata.

Niemand – in der Öffentlichkeit – weiß bisher sicher, was die 5.800 Tonnen an Fracht genau umfassten; gleichwohl ließe sich wohl mit einiger Sicherheit erahnen, dass es wahrscheinlich keine Teppiche waren.
Denn für deren Geleitschutz bräuchte man kaum die drei türkischen Kriegsschiffe, welche die „Çirkin“ auf ihrer viertägigen und 1.000 Seemeilen langen Fahrt eskortierten. Mit ziemlicher Sicherheit wurde da also militärische Ausrüstung befördert, und zwar für die libysche Armee unter dem Kommando der Regierung der Nationalen Einheit (GNA). Und das verstieße dann mit Sicherheit gegen das von der UNO verhängte Waffenembargo.
Nach drei Tagen bekam die Sache Schlagseite: Ein griechischer Hubschrauber, der von der griechischen Fregatte „Spetsai“ aus operierte, näherte sich dem Frachter und ersuchte Landeerlaubnis, um eine Enterkommandotruppe abzusetzen, die die Ladung des Frachters inspizieren sollte. Die „Spetsai“ und ihr Hubschrauber waren im Rahmen der Operation Irini im Einsatz, die von der Europäischen Union zur Durchsetzung eines UN-Waffenembargos gegen Libyen im Mittelmeer gestartet wurde. Die türkische Eskorte der „Çirkin“ lehnte die griechische Anfrage kurzerhand ab.
Die „Spetsai“ zog sich zurück und überwachte die „Çirkin“ nun weiter aus der Ferne. Kurz danach schaltete das Frachtschiff auch noch seinen Transponder ab.
Die französische Fregatte „Courbet“, unterwegs im Rahmen der OperationSea Guardian, einer maritimen Sicherheitsoperation der NATO, wurde daraufhin von der NATO darüber informiert, dass die „Çirkin“ möglicherweise Waffen unter Verletzung des UN-Embargos transportierte.
Nachdem sich die „Çirkin“ gegenüber der „Courbet“ nicht regulär identifizierte und sich auch weigerte, ihren endgültigen Bestimmungshafen preiszugeben, versuchte die „Courbet“, den Frachter zu entern. Zu diesem Zeitpunkt visierte eine der türkischen Fregatten die „Courbet“ dreimal mit ihrem Feuerleitradar an, was allgemein als klares Absichtssignal und Warnung verstanden wird, dass man nun die eigenen Waffensysteme auf den Einsatz vorbereitet.
Die „Courbet“ zog sich daraufhin zurück, und am nächsten Tag kam die „Çirkin“ in Misrata an, wo sie dann unbehelligt ihre Ladung löschen konnte.
Anschuldigungen
Frankreich verurteilte das Vorgehen der Türkei und reichte eine offizielle Beschwerde bei der NATO ein. Eine anschließende „Untersuchung“ des Falles durch die NATO lieferte als „unschlüssig“ deklarierte Ergebnisse, wobei Einzelheiten weiterhin geheim gehalten werden. Die Türkei ihrerseits verlangte von Frankreich gar eine Entschuldigung. Als Reaktion darauf zog Frankreich seine Streitkräfte von der Operation Sea Guardian ab und verlangte, die NATO möge doch die Aufgabe ernst nehmen, das UN-Waffenembargo gegen Libyen durchzusetzen. Dieser Schritt aber brachte Frankreich später in noch größeren Konflikt mit der Türkei, ebenso NATO-Mitglied.
Mehr zum Thema – Frankreichs geplatzte Träume in Libyen
Ab dieser Stelle wird der Vorfall völlig undurchsichtig – es scheint, dass die Operation Sea Guardian gar kein NATO-Mandat zur Unterstützung der Operation Irini hatte. Mehr noch: anscheinend wurde auch die Entscheidung, die „Çirkin“ von ihrem bisherigen Kurses abzubringen, von Frankreich im Alleingang getroffen – ebenfalls ohne jegliche Autorisierung seitens der NATO.
In den Tagen nach dem Vorfall vom 10. Juni appellierte die Europäische Union also an die NATO, doch bitte jenen Schiffen, die der Operation Sea Guardian zugeteilt wurden, eine direkte Unterstützung der OperationIrini zur Durchsetzung des Waffenembargos gegen Libyen zu erlauben. Nun würde allerdings eine solche Genehmigung die einstimmige Zustimmung aller NATO-Mitglieder erfordern. Das wiederum macht solche Genehmigung angesichts eines wohl unvermeidlichen Vetos seitens der Türkei von vornherein unmöglich.
Dysfunktional und tief gespalten
Die Umstände, die zur Konfrontation zwischen zwei, drei angeblichen NATO-Verbündeten in den Gewässern vor Libyen geführt haben, deuten öffentlich auf eine Dysfunktion im NATO-Bündnis hin – und zwar auf Dysfunktion von einem Grade, der die Tatsache offenkundig macht, dass diese 71-jährige Allianz nunmehr ihr Mindesthaltbarkeitsdatum offenbar überschritten hat. Was außerdem angesichts dieser Dysfunktion ins Auge springt: Die gegenwärtige Suche der NATO nach Relevanz außerhalb jenes transatlantischen Rahmens der liberalen, „auf Regeln beruhenden Ordnung“, zu deren Verteidigung sie nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, hat das Bündnis mittlerweile auf einen selbstzerstörerischen Kurs gebracht, auf dem es zunehmend in innere Konflikte mit sich selbst (also seinen Mitgliedern) gerät.

Meistens steht die Türkei im Fokus dieser inneren Konflikte, was die Frage nach dem weiteren Bestand der Türkei als NATO-Mitglied aufwirft – aber auch nach der Lebensfähigkeit des Bündnisses insgesamt.
Seitdem die Türkei im Februar 1952 der NATO beitrat, war und blieb sie ein Außenseiter. Dabei war ihre militärische Bedeutung für das Bündnis seinerzeit immens: Indem die NATO die Türkei an Bord holte, wollte sie nicht nur ihre Südflanke gegen die Sowjetunion absichern, sondern sorgte zugleich dafür, dass sich die Türkei auch später niemals mit Moskau verbünden sollte.
Im Gegenzug musste die NATO jedoch bei mancher Frage in einem anderen Umfeld, für die sich die NATO-Mitgliedschaft der Türkei als nachteilig erwies, ein Auge – oder gar alle beide – zudrücken.
Militärputsche und russische Waffenkäufe
Der militärische Aspekt der Beziehungen zwischen der Türkei und der NATO war in den Gründerjahren buchstäblich bombensicher – tatsächlich hatte Ankara im Jahr 1950 ein Truppenkontingent immerhin in der Größe einer Brigade entsandt, das an der Seite der USA und der UNO bei der Verteidigung Südkoreas kämpfte.
Doch das türkische Militär blieb ein zweischneidiges Schwert: 1960 inszenierte das türkische Militär einen Staatsstreich gegen den demokratisch gewählten Premierminister Adnan Menderes, der 1961 auf Entscheid eines Militärtribunals sogar hingerichtet wurde. Und obwohl das türkische Militär zum Jahr 1965 eine Zivilregierung wiederherstellte, schritt es gerade einmal sechs Jahre später erneut ein, um im Jahr 1971 die Regierung von Süleyman Demirel zu stürzen, um dann noch im Jahr 1980 erneut gegen eine weitere von Demirel geführte Regierung zu putschen.
1998 organisierte das türkische Militär schließlich einen „postmodern“ genannten Putsch: Es forderte einfach den Rücktritt der Regierung von Necmettin Erbakan, allerdings ohne diesmal die Verfassung tatsächlich außer Kraft zu setzen.

Die Zwietracht zwischen zivilen Regierungen und dem Militär in der Türkei, die sich aus dieser Reihe von Staatsstreichen unschwer herauslesen lässt, ist außerdem repräsentativ für den grundlegenden internen Konflikt zwischen säkularen und radikalislamistischen Kräften innerhalb der Türkei, der seit der Gründung der modernen Republik andauert.
Die USA und andere NATO-Verbündete drückten regelmäßig vor dieser Neigung des türkischen Militärs zum Sturz rechtmäßig gewählter ziviler Regierungen beide Augen zu. Denn das System, das bisher durch diese Interventionen erhalten wurde – säkulare, pro-westliche Regierungen – galt ihnen immer noch als die bessere Alternative gegenüber jenen populistischen radikalislamistischen Bewegungen, die die Grundwerte der NATO gar nicht teilten.
Die Wahl Recep Tayyip Erdoğans, eines Anhängers des gestürzten Erbakan, zum türkischen Ministerpräsidenten im Jahr 2003 brachte die Türkei auf eben jenen Kollisionskurs zur NATO und zum Westen. Denn Erdoğan ist ein kompromissloser Islamist, und seine panosmanische Vision von der Rolle der Türkei in der Welt kollidiert mit dem traditionellen transatlantischen Bild, dem die NATO folgt.
Im Juli 2016, als das türkische Militär einen diesmal fehlgeschlagenen Versuch unternahm, Erdoğan zu stürzen, waren viele Offiziere mit NATO-freundlicher Haltung beteiligt, die sich gegen Erdoğans islamistische Agenda wandten. Seit dem gescheiterten Putsch hat Erdoğan jedoch das türkische Militär so weit neugeordnet, dass sich dessen Führungsriege nun ideologisch an seiner Vision vom Platz der Türkei in der Welt ausrichtet – einer Vision, die häufig im Widerspruch zu den Zielen der NATO steht.
Vielleicht wurde diese Unvereinbarkeit zwischen der Türkei und der NATO bisher mit dem Kauf russischer S-400 Boden-Luft-Raketen durch die Türkei am sichtbarsten deutlich. Die USA drohten der Türkei hierfür mit Sanktionen und beendeten die Beteiligung Ankaras an der Produktion des F-35-Mehrzweck-Kampfflugzeugs.
Doch weitere Reibungspunkte sind die Invasion und Besetzung Nordsyriens durch die Türkei und der anschließende Konflikt mit den dort operierenden, von den USA unterstützten kurdischen Streitkräften, die laufende militärische Operation der Türkei im Nordirak, die ohne Erlaubnis der irakischen Regierung durchgeführt wird, sowie die Unterstützung der Regierung der Nationalen Einheit (GNA) in Libyen durch die Türkei.
Gerade diese Unterstützung der GNA, die in Form von Waffentransporten und personell erfolgt, löste nun den Zwischenfall mit Frankreich im Mittelmeer aus – und bringt die Türkei heute immer offener auf Kollisionskurs zur NATO.

Das NATO-Bündnis hat seit der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 um den Erhalt seiner Relevanz zu kämpfen. Die vielen Brüche und Risse, die innerhalb des Bündnisses bestehen, wurden übertüncht – etwa zwischen dem neuen (NATO-freundlichen) „Ostblock“ gegenüber dem „alten Europa“, zwischen Befürwortern von Rechtsstaatlichkeit gegenüber den autokratischen Regierungen, oder auch zwischen den transatlantischen Urvätern (den Befürwortern einer Selbsteinschränkung auf in etwa die alte „Kern-NATO“. Anm. d. Red.) gegenüber den Strebern nach globaler Expansion. Das wurde von der bis dahin auf Konsens beruhenden Organisation gern überspielt – in dem Bemühen, Einigkeit zu demonstrieren.
Doch die inhärente Unvereinbarkeit von Erdoğans Traum von einem „großosmanischen Reich“ (der treibenden Kraft hinter der Intervention der Türkei in Libyen) mit der liberalen, „auf Regeln beruhenden Ordnung“, für die die NATO angeblich eintritt, lässt sich nicht so leicht unter den sprichwörtlichen Teppich kehren.
Der Zwischenfall zwischen Frankreich und der Türkei offenbart vielmehr die grundlegende Schwäche der NATO, einer Organisation, die noch immer verzweifelt nach Relevanz sucht. Die Realität ist heute, dass die Türkei nicht nur seit jeher das schwächste Glied in diesem Bündnis ist – sondern ihre fortgesetzte Präsenz stellt eine Giftpille dar, die sich letztlich als der Tod der Allianz erweisen wird. Die Frage ist nur, wie bald.
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Mehr zum Thema – Frankreich warnt nach „extrem aggressivem“ Manöver vor einem „türkischen Problem“ in der NATO
Übersetzung aus dem Englischen. Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie. Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen wie internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und der Nahe Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung. Er kann auf Twitter abonniert werden unter @RealScottRitter

https://deutsch.rt.com/meinung/104696-turkei-wird-totengraber-nato-vorfall-frankreich-vor-libyen/