KULTUR
„Aus dem Grab kann ich frei reden“
Veröffentlicht am 05.01.2011 | Lesedauer: 7 Minuten
WELT Autorenfoto für Kolumnen Kombo
Von Hannes Stein
Freier Korrespondent
Mark Twains Autobiografie ist in Amerika zum Überraschungserfolg geworden
Der Autor von „Tom Sawyer“ war in Vielem Avantgarde. Er war der erste politische Schriftsteller in der modernen Bedeutung des Wortes
Erinnert sich noch jemand an den Morris-Zwischenfall, der einst ganz Amerika in Atem hielt, der Anlass für Sondersitzungen im Senat und im Repräsentantenhaus war? Der fragliche Zwischenfall ereignete sich wie folgt. Eine gewisse Mrs. Morris, eine betuchte Dame von einigem Einfluss, schaute im Weißen Haus vorbei und wünschte den Präsidenten zu sprechen. Sein Sekretär – ein gewisser Mr. Barnes – sagte, das sei leider nicht möglich und wollte außerdem wissen, worum es sich denn handle.
Mrs. Morris erklärte, ihr Mann sei von seinem Beamtenposten enthoben worden, und sie wünsche, dass der Präsident sich seines Falles annehme. Sie weigerte sich strikt, das Weiße Haus zu verlassen. Mr. Barnes, der Sekretär, winkte daraufhin ein paar Polizisten vorbei, und die entfernten Mrs. Morris mit handgreiflicher Gewalt vom Grundstück, wobei ihre Röcke durch den Schlamm gezogen wurden. Sie wurde für geistig unzurechnungsfähig erklärt, musste fünf Dollar Strafe zahlen und lag hinterher mit einem schweren Schock in ihrem Hotelzimmer in Washington.
Es ist keine Schande, wenn Sie, geschätzter Leser, noch nie etwas vom Morris-Zwischenfall gehört haben. Auch wir hatten nicht einmal eine blasse Ahnung von ihm, ehe wir den ersten Band der Autobiografie von Mark Twain gelesen hatten – ein Riesentrumm von Buch, das dieser Tage zu einem Überraschungserfolg auf dem amerikanischen Buchmarkt wurde: Die Leute stürzen sich mit Heißhunger auf dieses Monstrum und verschlingen es mit Haut und Haar.
Der Morris-Zwischenfall, vermerkte Mark Twain anno 1906, „hat die russische Revolution aus dem Blickfeld verschwinden lassen“ (er meint die allererste, die vom Zaren zusammengeschossen wurde), „das Geheimnis von China und den ganzen Rest“. Er fügt den Morris-Zwischenfall als ein Beispiel von „Nachrichten“ in seinen Text ein, „Nachrichten“ im Gegensatz zu „Geschichte“. Das eine ist das, was bleibt, das andere ist das, was verschwindet.
Mark Twain hatte verschiedene Male zu einer Autobiografie angesetzt, jedes Mal war er gescheitert. Er hatte es mit der braven, der chronologischen Methode versucht: Geboren dann-und-dann, Kindheit in den Südstaaten vor dem Bürgerkrieg, Leben auf dem Mississippi, und jedes Mal kam leider der Moment, wo sein Projekt blubbernd im Sumpf der Langeweile unterging. Twain machte gerade Urlaub in Florenz, als er plötzlich wusste, wie er es machen musste: „Beginne an irgendeinem Zeitpunkt deines Lebens“, notierte er, „durchwandere es, wie dir gerade lustig ist, rede ganz offen nur über das, was dich im Moment interessiert, und lasse das Thema fallen, sobald es anfängt, schal zu werden.“
In seinem Testament verfügte er, dass seine Aufzeichnungen erst hundert Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden dürften; deswegen kommen sie ausgerechnet jetzt auf den Markt (Twain starb im April 1910). „Ich spreche aus dem Grab“, heißt es im Vorwort. „Ich spreche aus dem Grab statt mit meiner lebendigen Zunge aus gutem Grund: So kann ich frei reden.“
Freilich handle es sich bei seiner Autobiografie nicht um Aufzeichnungen, die von der Rachelust angetrieben seien. „Wenn ich unter jemanden ein Feuer anzünde“, so Twain, „dann verfahre ich nicht nur des Vergnügens wegen so, das es mir bereitet, diesen Menschen braten zu sehen, sondern weil er die Mühe lohnt. Es handelt sich also um ein Kompliment, eine Auszeichnung; möge der Betreffende dankbar sein und den Mund halten. Die Kleinen, Gemeinen, Unwürdigen brate ich nicht.“
Twain hat diese Autobiografie nicht geschrieben. Er hat sie einem Sekretär in die Feder diktiert. Für das, was er beim Diktieren tat, wissen wir Heutigen einen Fachausdruck: Mark Twain bloggte. Der Leser nimmt dieses dicke Buch wirklich genau so zu sich, wie man einen Blog konsumiert. Er taucht in den Text ein und taucht aus ihm wieder auf, er scrollt, pardon: er blättert vor und zurück, er trifft auf eingeklebte Zeitungsartikel von Anno Schnee. Nichtigkeiten und Wichtigkeiten schön ungeordnet nebeneinander gestellt.
Eigentlich auf jeder Seite findet der Leser irgendein brillant geschliffenes Kleinod, etwas, worüber er lachen kann. Hier etwa sind – apropos von gar nichts – Mark Twains Anmerkungen zum modernen Wellnesskult: „Schade, dass die Welt so viele gute Sachen wegwirft, nur weil sie ungesund sind. Ich bezweifle stark, dass Gott uns irgendeine Erfrischung gegeben hat, die ungesund ist, wenn man sie mit Mäßigung zu sich nimmt – außer Bazillen. Und trotzdem gibt es Leute, die sich alles Essbare, Trinkbare und Rauchbare versagen, das sich einen schlechten Ruf erworben hat. Diesen Preis zahlen sie für ihre Gesundheit. Und Gesundheit ist dann auch alles, was sie dafür bekommen. Alles sehr seltsam – als würde man sein ganzes Vermögen für eine Kuh ausgeben, die keine Milch mehr gibt.“ Wahrscheinlich schmauchte er gerade eine Zigarre, während er das vor sich hinsagte.
Mark Twain war längst berühmt, als er seine Autobiografie mit Hilfe eines Sekretärs auf Papier bloggte. Die meisten amerikanischen Jugendlichen hatten seinen „Tom Sawyer“ gelesen, die Erwachsenen lachten sich schief über den „Yankee aus Connecticut an König Arthurs Hof“, und vielleicht dämmerte es manchen Leuten beim Lesen sogar, dass der „Huckleberry Finn“ viel mehr war als die Fortsetzung des „Tom Sawyer“, dass sie hier einen erstaunlichen, einen jahrhundertgroßen Roman in den Händen hielten. Twain ist eigentlich derjenige, der die amerikanische Literatur erfunden hat. Gewiss, auch vor ihm gab hatte es schon amerikanische Schriftsteller gegeben: Hawthorne, Poe, Melville. Aber die schrieben alle Englisch. Mark Twain war der Erste, der amerikanisches Englisch schrieb, der sein Epos also ganz ungeniert im ungewaschenen Slang der Südstaaten komponierte, und zwar vom ersten Satz an: „You don’t know about me without you have read a book by the name of ‚The Adventures of Tom Sawyer‘, but that ain’t no matter.“
Im Ausland galt Twain als der Amerikaner par excellence. Er wurde herumgereicht und bestaunt und bewundert, er galt als amüsant und unterhaltsam, ein Paradiesvogel. In Amerika war Mark Twain ein scharfer Kritiker der Regierung. Amerikanische Soldaten führten damals auf den Philippinen einen Kolonialkrieg, der so schmutzig und blutig und grausam war, wie Kolonialkriege das gemeinhin zu sein pflegen. General Otis‘ Truppe massakrierte zehntausende, vielleicht sogar hunderttausende Zivilisten. Aus gerechtem Zorn über diesen Krieg hatte Mark Twain die „Antiimperialistische Liga“ gegründet. In seinen Erinnerungen spricht Twain sarkastisch über jenen glänzenden militärischen Sieg, den eine mit modernen Feuerwaffen ausgerüstete amerikanische Truppe über 600 „moros“ errang, muslimische Männer, Frauen und Kinder, die mit Knüppeln und Krummsäbeln bewaffnet waren und sich in einem Vulkankessel verschanzt hatten. Keiner von ihnen überlebte. „‚Schlächterei‘ ist ein treffendes Wort“, bloggte er dazu. „Ganz gewiss gibt es kein besseres im Wörterbuch.“
Mark Twain gehörte in vieler Hinsicht zur Avantgarde. Er war wohl der erste Schriftsteller, der eine Schreibmaschine benutzte, der erste, der ein Weltstar wurde, der erste, dessen Haus in Hartford, Connecticut, über ein modernes Abwasser- und Röhrensystem verfügte. Er war auch der erste politische Schriftsteller in der modernen Bedeutung des Wortes.
Nach der Lektüre seiner Autobiografie ist es vielleicht an der Zeit, ein Urteil zu überdenken, das George Orwell über Mark Twain gefällt hat. Dieser habe zu einer Zeit geschrieben, als die kapitalistische Demokratie, wenigstens für die weißen Amerikaner, noch unbändige Freiheit bedeutete. „Wenigstens ein paar Jahrzehnte lang machte das Leben in Amerika mehr Spaß als in Europa – es war mehr los, es gab mehr Farben, mehr Abwechslung, mehr Möglichkeiten – und die Bücher und Lieder aus jener Epoche blühen irgendwie, sie haben eine kindliche Qualität.“ Aber bald nach dem Bürgerkrieg habe der Abstieg begonnen. Massen von verarmten Europäern füllten den Kontinent. Die Großindustrie trat ihren Siegeszug an; und Mark Twains Karriere sei ein Symptom für diesen Niedergang. „Aus ihm hätte ein Zerstörer des Unsinns und ein Prophet der Demokratie werden können, weit wertvoller als Walt Whitman, weil er gesünder war und mehr Humor hatte. Stattdessen wurde er eine zwielichtige Existenz, eine ‚öffentliche Figur‘, die von Passbeamten umschmeichelt und von königlichen Hoheiten unterhalten wird…“ Twain sei zum Hofnarren der Herrschenden degeneriert. Sein Grundfehler: Er habe die Macht und den Erfolg angebetet.
Aber jetzt, wo wir Mark Twains Autobiografie lesen können, erkennen wir: Während der Hofnarr den Zirkus, der um ihn veranstaltet wurde, in vollen Zügen genoss, hat er den Zirkusdirektor ganz offen verachtet. Er war im Grunde gar nicht so anders als die verrückte Mrs. Morris, die von Polizisten aus dem Weißen Haus getragen wurde, während ihre Röcke durch den Schmutz schleiften.
Mark Twain: The Autobiography of Mark Twain, Volume 1. Hrsg. von Harriet Elinor Smith u.a.The University of California Press. Berkeley, Los Angeles und London 2010. 736 S., ca. 19,22 $.“
https://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article11978889/Aus-dem-Grab-kann-ich-frei-reden.html
Wie sie den Worten Mark Twains entnehmen können…
War es schon IMMER ein Problem…
Sich…
Eine eigene Meinung zu leisten.
Auch und GERADE in AMerika,
Sich der unverblümten Wahrheit zu widmen.
DIE bedingungslose, absolute Macht WIRD es weitergehen?
Na mal sehen